2012 „Wanderungen“

„Wanderungen.
Migrationen & Transformationen aus geschlechterwissenschaftlichen Perspektiven“

2. Jahrestagung der wissenschaftlichen Fachgesellschaft Geschlechterstudien/Gender Studies Association
3./4. Februar 2012, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Weiterführende Informationen zur Tagung

Ein Sammelband mit Beiträgen der Tagung ist 2013 bei transcript erschienen.

Fotostrecke und Tagungsbericht (von Sara Stadler)

Ein weiterer Tagungsbericht von Anna-Katharina Meßmer ist im Heft 1 (Mai 2012) der Zeitschrift Feministische Studien erschienen.

Einladung und Rundbrief

Plakat Wanderungen

Flyer Wanderungen

Thema

Menschen, Dinge und Konzepte sind weltweit in Bewegung geraten. Bewegungen, die bei­spielsweise durch eine global werdende Ökonomie, durch neue Technologien der Informa­tionsübermittlung und des Transports und nicht zuletzt durch die unzähligen regionalen und internationalen Kriege zunehmen. Diese Migrationsprozesse neuen Ausmaßes werden ebenso kritisch und ängstlich beobachtet wie versucht wird, die schwer beherrschbaren Wanderungen von Viren, Keimen und Epidemien mit hohem technischen Aufwand in Schranken zu halten. Menschen, die sich bislang in sicheren Territorien und innerhalb von Grenzen ge­schützt wähnten, sehen sich dadurch zum Teil bedroht.

Zugleich fühlen sich viele durch Wanderungen kultureller Artefakte, Dinge, Bilder, Töne aus anderen Kulturen angeregt, fasziniert und bereichert. Die Zirkulation von Waren, bioökonomischen Modellen und tech­nologischen Konzepten scheint, forciert durch ökonomische Interessen, keine Grenzen mehr zu kennen. Der Imperativ der Mobilität ruft indes zugleich Gegenbewegungen hervor: Entschleunigung, der Wunsch nach ‚Heimat‘, ‚Auszeiten‘ und auch das Wandern im wörtlichen Sinne scheinen stetig an Attraktivität zu gewinnen. Fremdheitserfahrungen rufen allerdings nicht selten Sehnsüchte nach Eindeutigkeit und vermeintlich Vertrautem hervor. Unbe­streitbar ist zugleich, dass die Herausforderungen einer Befremdung des Eigenen, des sicher und unhinterfragbar Geglaubten, neue Perspektiven der Kritik eröffnen können.

Abstracts (in alphabetischer Reihenfolge der Referent_innen):

Laura Adamietz/ Nora Markard (Bremen): Migrating Theories – Migrating Rights? Gender und Sexualität im Migrationsrecht

Die Akzeptanz nicht-heteronormativer Lebensweisen reicht von gesetzlicher Institutionalisierung bis zu Strafbedrohungen für Leib und Leben, die viele Menschen zur Flucht zwingen. Das Migrationsrecht steht an der Schnittstelle von Wanderungsbewegungen der Rechtssubjekte, der Theorien, gesellschaftlicher Anerkennung und erreichter queer-feministischer Rechte. Hier ist der Ort, an dem verhandelt wird, ob unzumutbare menschenrechtliche Zustände im Herkunftsland Verfolgung darstellen. Dabei ist für Migrant_innen „Othering“ – notwendiger wie problematischer – Teil ihres Kampfes um Anerkennung. So befand das Bundesverwaltungsgericht 1988, es sei nicht Aufgabe des Asylrechts, „möglicherweise gewandelte moralische Anschauungen in der Bundesrepublik über homosexuelles Verhalten in anderen Staaten durchzusetzen.“ Schutz erhielt der iranische Kläger nur, weil ärztlich befunden wurde, es sei ihm aufgrund seiner Veranlagung unmöglich, seine Homosexualität zu verbergen. Während in Europa Lebenspartnerschaften erkämpft werden, darf normabweichenden Sexualitäten im Ausland der Raum des Privaten zugewiesen werden – ob dies noch mit Europarecht vereinbar ist, ist offen. Der britische Supreme Court befand diese Rechtsprechung für menschenrechtswidrig. Diese Anerkennung geht jedoch mit neuerlichen Stereotypisierungen einher, denn nun geht es um den Nachweis der Homosexualität, in nach westlichen Standards lesbarer Weise. Das Migrationsrecht steht damit auf dem queer-feministischen Prüfstand.

Dr. Laura Adamietz ist Rechtsanwältin und wiss. Mitarbeiterin am Institut für Gender-, Arbeits- und Sozialrecht der Universität Bremen. Ihre von Susanne Baer betreute Dissertation „Geschlecht als Erwartung. Das Geschlechtsdiskriminierungsverbot als Recht gegen Diskriminierung wegen der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsidentität“ vereint Rechtswissenschaft mit Geschlechterstudien und ist vor kurzem erschienen. 
Nora Markard ist Volljuristin und wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem völkerrechtlichen Forschungsprojekt an der Uni Bremen (Sfb 597). Sie hat 2011 in Berlin bei Susanne Baer zu Kriegsflüchtlingen promoviert. Mit Laura Adamietz publizierte sie u.a. Herausforderungen an eine zeitgenössische feministische Menschenrechtspolitik am Beispiel sexualisierter Kriegsgewalt, Kritische Justiz 2008, 257.

Corinna Bath (Berlin): Modelle des Humanen in der Informatik – Verschiebungen in der technowissenschaftlichen Reproduktion von Geschlecht?

Eigenschaften und Fähigkeiten, die bis dato dem Menschen zugeschrieben wurden, dienen der informatischen Forschung & Entwicklung als Quelle der Inspiration. Insbesondere Produkte der Künstlichen Intelligenz-Forschung basieren oft auf Ansätzen der Imitation und Simulation des Humanen. Denken, Handeln, Kommunizieren oder Fühlen soll hierzu so gut wie nur möglich dem Menschen abgeschaut und in die Artefakte eingeschrieben werden, um so bessere Maschinen konstruieren zu können.

In meinem Beitrag möchte ich anhand der Modellierung von Emotionen in der Softwareagentenforschung und dem Selbstverständnis von Semantic Web-Forschung aufzeigen, welche Prozesse der Vergeschlechtlichung in der Informatik wirksam werden können: Konzepte des Humanen, die von der feministischen Forschung seit langem kritisiert worden sind, wandern hier von Kognitionswissenschaft und Soziobiologie in die Informatik. Gleichzeitig gab und gibt es jedoch auch immer Brüche bzw. Verschiebungen in der technowissenschaftlichen Reproduktion des Menschlichen und damit von Geschlecht, etwa den Turing-Test von 1950 oder aktuelle konstruktivistische Emotionsmodelle in der Mensch-Maschine-Interaktion.

Dies wirft die Frage auf, inwieweit feministische Interventionen in die Wanderbewegungen der Konzepte zwischen Disziplinen bzw. Onto-Epistemo-logien (Barad) möglich sind, um in einem geschlechterkritischen Sinne bessere informatische Artefakte zu kreieren.

Corinna Bath ist Mathematikerin, Geschlechterforscherin in der Informatik und zurzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung (ZIFG) der TU Berlin tätig. Einschlägige Publikation: Epistem-onto-logische Konstruktionen „sozialer“ Maschinen.  In: Bettina Bock von Wülfingen/ Ute Frietsch (Hg.): Epistemologie und Differenz. Bielefeld 2010

Kerstin Brandes (Oldenburg): Visuelle Migrationen der Hottentotten-Venus – Zum Entwurf einer Forschungsperspektive

Die Anfang des 19. Jahrhunderts vom südlichen Afrika nach Europa gebrachte Saartjie  Baartman, die als Hottentotten-Venus öffentlich zur Schau gestellt und anthropologisch beforscht wurde, ist seit den 1980er Jahren ein vielbearbeitetes Thema kulturhistorischer, postkolonialer und gendertheoretischer Auseinandersetzung sowie populärwissenschaftlicher und vielfältiger künstlerischer Produktionen. Mit als steatopygisch diagnostiziertem Gesäß und vermutet übergroßen Labien entsprach die historische Person einem bereits existierenden europäischen Vorstellungsbild monströser, fremder Weiblichkeit als Verkörperung sexueller Abartigkeit und rassischer Minderwertigkeit. Ausgehend von einem semiologisch fundierten Repräsentationsbegriff setzt der Beitrag bei den zeitgenössisch entstandenen Bildern der Saartjie Baartman bzw. der Hottentotten-Venus an – Ausstellungsplakate, anthropologische Zeichnungen, Karikaturen, satirische Blätter –, die zum einen in den gegenwärtigen Thematisierungen und Aneignungen, etwa als ‚authentisches Porträt‘ oder in der Figur der Video Vixen, neu sehen gegeben werden und zum anderen auf eine europäisch generierte Ikonografie der Hottentotten seit der Frühen Neuzeit verweisen. Im Entwurf einer Forschungsperspektive, die die Hottentotten-Venus als stereotypisiertes und zugleich fortlaufend modifiziertes Produkt komplexer Bildwanderungen analysiert, steht die Verfasstheit eines transkulturellen Bildrepertoires zur Diskussion, nicht zuletzt hinsichtlich eines Bild-Status des (Schwarzen) Weiblichen, wie er sich als hegemoniale Struktur westlicher Repräsentationsregime artikuliert.

Dr. Kerstin Brandes ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunst und visuelle Kultur der Universität Oldenburg. Arbeitsschwerpunkte: Bildzirkulationen zwischen Mediengeschichte und Transkulturalität, Kulturwissenschaftliche Geschlechterstudien, Postcolonial und Queer Studies, Theorie und Geschichte der Fotografie. Einschlägige Publikation: Visuelle Migrationen. Bild-Bewegungen zwischen Zeiten, Medien und Kulturen. Themenheft, FKW//Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur, Nr. 51, Juni 2011 (Hg.); darin auch: Porträt, Travelogues und Weblogs – zu visuellen Migrationen der Hottentotten-Venus.

Klara Groß-Elixmann (Bochum): Die Stimmen der Frauen. Transformationen stummer Hysterikerinnen bei Arthur Schnitzler

Der Beitrag wird anhand der medizinischen und literarischen Texte Arthur Schnitzlers die Permeabilität des menschlichen Körpers und die Transformation weiblicher Rollenbilder problematisieren. Dazu wird Schnitzlers einzige medizinische Studie Über funktionelle Aphonie und deren Behandlung durch Hypnose und Suggestion in den Blick genommen, in der die Versuchspersonen des therapeutischen Versuchs exklusiv sechs weibliche Patienten sind. Diese sechs Patientinnen verweisen mit ihrem aphonischen Krankheitsbild in besonderer Weise auf die medizinhistorische Frage nach der genderspezifischen Zuschreibung therapeutischer Versuche am Menschen im ausgehenden 19. Jahrhundert. Ausgehend von diesem Befund ist weiter zu fragen, inwieweit Transformationen dieser Einschreibung möglich sind und welche sozial gültigen Grenzen durch derartige Irregularitäten verletzt werden.

Neben der medizinischen Studie zeigen vor allem Die Braut. Eine Studie und Der Reigen Formen von Grenzverletzungen: In Die Braut wird die soziale Übertretung eingeschriebener Rollenschemata offenkundig während Der Reigen die grenzunterwandernde Macht krankmachender Erreger konstruiert. Gleichzeitig liegt in beiden Texten ein Fokus auf der Prostituierten, deren im 19. Jahrhundert pathogenes und pathologisches Bild durch Schnitzler problematisiert wird. Der verbindende Blick auf die medizinischen und literarischen Quellen bringt so die Perspektive der literaturwissenschaftlichen Genderforschung in die Tagung ein.

Klara Groß-Elixmann ist Theologin, Germanistin und promoviert zurzeit in der Literaturwissenschaft bei Prof. Dr. Nicolas Pethes  zum Thema „Epistemologische Strategien in Arthur Schnitzlers medizinischen und literarischen Texten“. Ihre  Arbeitsschwerpunkte sind: Literarische Anthropologie; Practical Turn; Literatur der Moderne; Konvergenzen zwischen Theologie und Literaturwissenschaft; Moraltheologie/Ethik.

Nanna Heidenreich (Braunschweig): Die Kunst der Migration – oder wie Migration Repräsentation herausfordert

Migration fordert Repräsentation fundamental heraus. Dies betrifft sowohl Repräsentation im Sinne von (politischer) Vertretung und den politischen ‚Körper‛ (Stichwort: Staatsbürgerschaft), als auch auf die Frage der Darstellung. Insbesondere illegalisierte Migration und die damit einhergehenden Viktimisierungsdiskurse stellen Vorstellungen von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit zur Verhandlung.

Zugleich scheint es so, dass wir den Strategien und Bewegungen – den ‚Künsten‛ der Migration – nur durch eine ‚Ent-Kanonisierung‛ gerecht werden können, unter anderem durch künstlerische Praktiken. Wie können dann jene (künstlerischen?) Artikulationen aussehen (und es gab ja nicht zufällig in den letzten Jahren eine große Zahl von Ausstellungen zum Thema Migration), die an eben dieser Schnittstelle intervenieren? Wo wiederum stoßen solche Interventionen an ihre Grenzen? Lassen sich die visuellen Verstellungen von Migration – Stichworte sind hier die Figurationen der ‹Zwangsprostituierten› und der obsessive Fokus auf Kopftuch bzw. Schleier – unterwandern, aushebeln, unterminieren, und wenn ja, erfordert dies ein Konzept von Repräsentation, welches Unsichtbarkeit konstitutiv mit denkt? Hier bietet sich ein produktiver Anschluss an feministische und queere Analysen von Repräsentationspolitik an. Wie kann die Frage der Repräsentationskritik durch / mit ‹Migration› erweitert werden?

Nanna Heidenreich ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medienforschung, HBK Braunschweig; Ko-Kuratorin der Sektion «Forum Expanded» bei der Berlinale (www.arsenal-berlin.de). Daneben unabhängige kuratorische Projekte mit Film und Video, v.a. an den Kreuzungspunkten von Politik & Kino / Kunst; bis 2009 Performanceproduktionen und andere Interventionen mit dem antirassistischen Netzwerk Kanak Attak (www.kanak-attak.de).

Sabine Hess (Göttingen): Wie vergeschlechtlicht ist die Europäische Migrationspolitik? Perspektiven einer feministischen Grenzregimeanalyse

Über die Geschlechtsspezifik von Migration und Mobilitätsformen besteht mittlerweile ein profundes Wissen in den gendersensiblen Kultur- und Sozialwissenschaften. Hierbei weisen biografische als auch empirisch-ethnografische Forschungen im weiten Feld der – generali-siert gesprochen – „Frauen-Migration“ immer wieder auf die Bedeutung politischer Regulatio-nen hin, die Wanderungsformen, -wege, -strategien, -erfahrungen etc. mitbeeinflussen. Der-artige feministisch orientierte Migrationsforschungen können zeigen, dass die nationale wie die europäische Migrationspolitik deutlich vergeschlechtlichte Bestimmungen beinhaltet und vergeschlechtlichende Effekte besitzt.

Allerdings gibt es nur wenige dezidierte feministische Politikfeldanalysen zur Genese und Artikulation nationaler wie europäisierter Migrationspolitk. Ausgehend von meinem mehrjäh-rigen ethnographischen Forschungsprojekt zu Akteuren und Diskursen der europäischen Migrationspolitik werde ich im Vortrag demonstrieren, dass GENDER tief in den Artikulatio-nen und Rationalitäten der neuen europäischen Migrationspolitik eingeschrieben ist, die als „Migration Management“ bezeichnet wird. Ich werde mir das Feld der sogenannten „Anti-Trafficking-Politik“, ihre Rolle für das restriktive europäische Grenzregime wie auch ihre Effekte hinsichtlich einer emanzipatorischen feministischen migrationsbezogenen Praxis näher analytisch betrachten und fragen, wie es zu dieser zu konstatierenden „Paßförmigkeit“ von frauenrechtlich Argumentationen – insbesondere von Anti-Gewalt-an-Frauen-Positionen und Praktiken –  kommen konnte. So zeigt mein Vortrag weitgehende Prozesse der „Vermenschenrechtlichung“ des Grenzregimes auf, welche zentral um die Kategorie Gender herum artikuliert sind.

Prof. Dr. Sabine Hess ist Professorin für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie an der Universität Göttingen. Sie hat in verschiedenen migrationsbezogenen Forschungsprojekten wie TRANSIT MIGRATION, CROSSING MUNICH oder München migrantisch gearbeitet. Sie ist Mitbegründerin des Netzwerks kritische Migrations- und Grenzregimeforschung. Zwei ihrer jüngsten Publikationen sind „Intersektionaliät revisited. Empirisch, theoretische und me-thodische Erkundungen“ (zus. mit Elisabeth Timm und Nikola Langreiter, transcript 2011) und „Grenzregime. Akteure, Diskurse und Institutionen in Europa“ (zus. mit Bernd Kasparek, Assoziation A 2010).

Ingrid Jungwirth (Berlin): „… Ingenieurin und andere naturwissenschaftliche Berufe, egal ob Mann oder Frau“ – Migrantinnen in den MINT-Fächern und die Anfechtung von Geschlechtskonzeptionen

Im Beitrag werden Ergebnisse eines Forschungsvorhabens zur „Arbeitsmarktintegration hochqualifizierter Migrantinnen“ vorgestellt. Insbesondere wird die für die Geschlechterforschung interessante Frage diskutiert, inwiefern durch die alltäglichen Praxen, Haltungen und Idealvorstellungen von Migrantinnen Geschlechtskonzeptionen in der Mehrheitsgesellschaft angefochten und hinterfragt werden. Zu den Erfahrungen von vielen Migrantinnen, die eine Hochschulausbildung in den MINT-Fächern absolviert haben und aus postsozialistischen Staaten zugewandert sind, gehörte u. a. ein Berufswechsel nach der Migration. Sie begegneten zahlreichen Hürden und Barrieren, bei denen oft Ausschlussmechanismen aufgrund des Status als Migrantin durch geschlechtsbezogene Ausschlussmechanismen überlagert und verstärkt werden. Es zeigt sich aber auch, dass manche Migrantinnen Geschlechtskonzeptionen, auf die sie im Technologiesektor trafen, in Frage stellten. Dies bezieht sich zum einen auf die Norm eines vorgeblich geschlechtsneutralen Habitus im technischen Feld, der mit Kompetenz verbunden wird. Zum anderen wird das Ideal in Frage gestellt, wonach Berufstätigkeit und Familienaufgaben im Gegensatz zueinander stehen und sich für Frauen gegenseitig ausschließen. Es wird zudem herausgearbeitet, welche Reflexionsmöglichkeiten sich für Geschlechterforschung/Geschlechterstudien, die sich mit Fragestellungen der Migrationsforschung befassen, hinsichtlich ihrer Vorgehensweise und theoretischen Grundannahmen ergeben.

Dr. Ingrid Jungwirth ist Sozialwissenschaftlerin, Geschlechterforscherin und aktuell Wissenschaftliche Mitarbeiterin sowie Projektleiterin am Institut für Sozialwissenschaften der  Humboldt-Universität zu Berlin. Einschlägige Publikation: „Geschlechtliche Konfigurationen in grenzüberschreitenden Berufsverläufen von Migrantinnen“, in: Vinz, Dagmar/Smykalla, Sandra (Hg.): Intersektionalität und Chancengleichheit, Münster: Westfälisches Dampfboot 2011, S. 181-199.

Miriam Kanne (Paderborn): Die ‚Wanderung’ zwischen Migration und Spaziergang: Prozesse der Übertragung und Verflüssigung von abstrakten Diskursen und performativen Akten am Beispiel von ‚Heimat’ und ‚Fremde’

Eine der Abstraktionen, denen der Begriff ‚Migration’ unterworfen ist, deutet auf ein diffuses Bewegungsmuster, das zwischen den Konzepten der ‚Beheimatung’ und der ‚Fremdheit’ changiert, und mehr noch: den Aspekt der ‚Fremdheit’ als Ist-Zustand denkt und zugleich auf eine ‚Heimat’ als räumlichen Ausgangs- und Zielpunkt gleichermaßen (zurück) zu verweisen scheint. Diese ‚Heimat’ ist – nicht nur in zahllosen literarischen, sondern auch in kulturellen Denk-Bildern – fast ausnahmslos mit der Figur und Person der Mutter respektive mit Bildern des Mütterlichen assoziiert worden und bestätigt darin ein Rollenschema, das das weibliche Geschlecht in der daheim wartenden, passiven Rolle verankert, den Mann hingegen als grenzüberschreitendes und aktives Subjekt figuriert (Beauvoir).

Eine Vielzahl von weiblichen Autoren bricht jedoch mit diesen Konzepten und Zuschreibungen: Nomadisierend, reisend, wandernd oder spazierend überführen ihre Protagonistinnen eine abstrakte Migrationsbewegung in leibliche Grenzgänge, die keinen Schwellen- oder Übergangsstatus markieren, sondern einen reziproken Prozess der Aneignung und Loslösung formulieren; ‚Heimat’ und ‚Fremde’ stellen keine bipolaren Eindeutigkeiten dar, sondern werden pluralisiert, entkonturiert und im performativ-leiblichen Akt des Gehens umgestaltet zu Prozessen der Raumaneignung, der Raum(re)konstruktion, der Raumverwirrung oder der Raumdestruktion.

Dr. Miriam Kanne arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Paderborn. Sie promovierte im Fach Neuere deutsche Literaturwissenschaft und forscht im Rahmen ihres komparatistisch angelegten Habilitationsprojekts zum leiblich erfahrenen und konstituierten Raum in Fußreisentexten.  Einschlägige Publikation: Andere Heimaten. Transformationen klassischer ‚Heimat’-Konzepte bei Autorinnen der Gegenwartsliteratur. Sulzbach/Taunus: Ulrike Helmer 2011.

Julia Koch (Leipzig): Mobilität und Geschlecht in der Prähistorischen Archäologie – oder: wer ist für den Kulturkontakt verantwortlich?

Migration und Mobilität von Menschen werden in den archäologischen Fächern eng verknüpft mit dem Transfer technologischer wie soziokultureller Innovationen betrachtet. Während allerdings in den Anfängen der prähistorischen Forschungen Völkerwanderungen (Migrationen) als Ursache für Kulturausbreitungen im Vordergrund standen, erfolgte nach einer völligen Negierung dieses Modells – bedingt durch den nationalsozialistischen Missbrauch – in den letzten Jahrzehnten die Fokussierung auf mobile Individuen und Kleingruppen als InnovationsträgerInnen. Die archäologische Geschlechterforschung trug dabei in letzterer Zeit durch ihre Differenzierung sozialer Gruppen nach Alter und Geschlecht eine neue Bewertung des soziohistorischen Kontextes bei, in dem Mobilität als Element bestimmter sozialer Rollen begriffen wird.

In dem Vortrag sollen im ersten Teil die aktuellen Konzepte zu Mobilität als reversiblen oder endgültigen Ortswechsel über Kulturgrenzen hinweg vorgestellt werden sowie zugehörige archäologische und archäometrische Methoden. Im zweiten Teil werden anhand eines Fallbeispiels aus dem BMBF-Projekt „Lebenslaufrekonstruktion mobiler Individuen in sesshaften Gesellschaften der Metallzeiten Mitteleuropas“ (2008–11) zu dem eisenzeitlichen Grabhügel Magdalenenberg bei Villingen-Schwenningen (um 600 v. Chr.) das Potential und die Grenzen dieser Methoden in Kombination mit den Fragestellungen der archäologischen Geschlechterforschung diskutiert.

Dr. Julia K. Koch ist Prähistorische Archäologin und Mitarbeiterin an der Professur für Ur- und Frühgeschichte, Universität Leipzig (2004–11). Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Metallzeiten in Mitteleuropa, archäologische Geschlechterforschung, Archäologinnen 1800–1950. Sie ist Mitbegründerin des FemArc-Netzwerkes archäologisch arbeitender Frauen e.V. und der working group „Archaeology and Gender in Europe“ sowie Mitherausgeberin der Monographienreihe „Frauen–Forschung–Archäologie“.

Anja Michaelsen (Bochum): „Stille Migration“. Transnationale Adoption und feministische Kritik

Transnationale Adoption charakterisiert eine spezifische „Unsichtbarkeit“ als Migrationsform, sie wird nur selten als solche diskutiert. Dies korrespondiert trotz weitreichender Effekte für zentrale Differenzverhältnisse wie Geschlecht, Sexualität, Race und Klasse, mit einem Schweigen aus feministischer Perspektive. Transnationale Adoption kann als Technologie von Verwandtschaft verstanden werden, die ähnliche Effekte der Überschreitung hierarchisierender Dichotomien hervorruft, wie sie Donna Haraway für die Technosciences beschrieben hat. Der Umstand, dass diese Technologie „unsichtbar“ ist, deutet auf die historisch spezifischen komplexen Machtverhältnisse hin, die Adoption betreffen. Dort, wo Adoption als Migration wahrgenommen wird, wird sie als privilegierte Form bezeichnet, basierend auf dem Ausschluss all jener, denen das Recht auf Immigration verweigert wird. Anhand einer exemplarischen visuellen Darstellung aus der Perspektive erwachsener Adoptierter – Deann Borshays autobiographischem Dokumentarfilm First Person Plural (USA 2000) – möchte ich ausführen, worauf sich sowohl Hoffnungen als auch Kritik bezüglich Adoption beziehen. Dabei richte ich den Fokus auf das Verhältnis zwischen der spezifischen „Unsichtbarkeit“ von Adoption als Migration und dem Zögern, aus feministischer Perspektive eine Kritik an Adoption zu formulieren. Diese erschwerte kritische Sicht scheint mir symptomatisch für die Diskussion der widersprüchlichen und ambivalenten sozialen Beziehungen, die aus den gegenwärtigen Prozessen der Globalisierung hervorgehen.

Anja Michaelsen, M.A. ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medienwissenschaft, Ruhr-Universität Bochum. Sie promoviert dort mit dem Dissertationsprojekt Kippbilder der Familie. Nationale und transnationale Adoption als Medien des Sentimentalen. Zuletzt erschienen: „‚I helped to bring them into this world’. Geburt, Leihmutterschaft und Reproduktionsmedizin in Frozen Angels (2005)“, in: Paula-Irene Villa, Stephan Möbius, Barbara Thiessen (Hg.): Soziologie der Geburt. Diskurse, Praktiken und Perspektiven, Campus 2011, S. 183-205. Gemeinsam mit Astrid Deuber-Mankowsky gibt sie seit 2007 das onlinejournal kultur&geschlecht heraus www.kulturundgeschlecht.de.

Kathy Meßmer (München): Same Same But Different. Intimchirurgie und weibliche Genitalbeschneidung im diskursiven Spannungsfeld von Zwang und Selbstbestimmung

In Deutschland lassen sich jährlich ca. 1400 Frauen mittels Female Genital Cosmetic Surgery (FGCS) ihren Intimbereich optimieren. Sobald jedoch an dieser Stelle Hand und Skalpell angelegt werden, entsteht ein Unbehagen, in dem all ‚unsere’ kulturellen Einschreibungen in den weiblichen Körper zum Ausdruck kommen. Zugleich sind Unbehagen und Einschreibung nicht nur Resultat der ‚eigenen’ Kultur, sondern entstehen auch und insbesondere in Vergleich mit und Abgrenzung von ‚anderen’ Kulturen.

Das Unbehagen an der Modifikation weiblicher Genitalien zieht sich durch alle feministischen, medizinischen, sozialwissenschaftlichen und medialen Debatten. Stets steht der Vergleich mit Female Genital Circumcision/Mutilation (FGC/M) implizit oder explizit im Raum. Selbst auf den Homepages von Intimchirurg_innen und deren Fachgesellschaft DG-Intim lässt sich die diskursive Wegebegleiterin ‚Afrika’ beobachten. ‚Afrikanische’ FGC/M ist hier als eine Art Negativfolie zu verstehen, an der sich Pro- und Kontra-Positionen zur FGCS (scheinbar) abarbeiten (müssen). So migriert die FGC/M nach Deutschland. Jedoch nicht als Praktik, sondern als Deutungsmuster und nimmt die Gestalt des ‚Unzivilisierten’, des ‚Anderen’ an.

Der Vortrag möchte dem Unbehagen auf den Grund gehen. Gefragt wird danach, warum und wann bei FGCS die Anmutung an Genitalverstümmelung entsteht und wo(zu) explizite Parallelen oder Abgrenzungen thematisiert werden.

Kathy Meßmer ist Diplom Soziologin und  wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Technischen Universität Berlin. Zeitgleich arbeitet sie an ihrer Dissertation über Intimchirurgie bei Prof. Dr. Paula-Irene Villa (LMU München).“

Aktuelle Publikation zum Thema: Umstrittene Intimoperationen: „Designermösen“ sind unerforscht, in: Die Tageszeitung vom 19.12.2011

Isabel Seliger (Berlin): Geschlecht und globaler Bildraum: Digitale Wanderungen und Transformationen im Werk von Miao Xiaochun

In seinen Bilderwelten geht der chinesische Fotograf und Medienkünstler Miao Xiaochun (*1964) Fragen der Identität und Selbstdarstellung sowie der Kunstproduktion und Kunstgeschichte nach, die er zusätzlich in übergeordneten Themenbereichen wie kulturelle Globalisierung und globale Machtverschiebungen verbindet. Mittels Techniken des Performativen, der Malerei, Skulptur und des Films durchwandert Miao Xiaochun seit 2006 virtuelle Reproduktionen berühmter Gemälde der europäischen Kunstgeschichte, und rückt somit transkulturelle und interpiktorale Bewegungen als grundlegendes Merkmal der Künste in den Vordergrund.

Als endlos geklonter, nackter Avatar überschreitet Miao jedoch nicht nur Kultur- und Bildergrenzen, sondert auch Zuordnungen von Geschlecht und Ethnie, welche er zunehmend durch hybride und fluide Formen in Szene setzt. Dadurch beleuchtet Miao Xiaochun zum Einen die Bedeutung von Körperlichkeit und Mobilität in postmodernen und gobalen Handlungsräumen, und zum Anderen die Möglichkeit alternativer Geschlechtssymboliken und -ordnungen.

Mein Vortrag beschreibt, wie Miao Xiaochuns digitale Wanderungen und Wandlungen auf ambivalente  Geschlechterkonstruktionen in klassischer ost- und südostasiatischer Skulptur zurückverweisen, und wie der Künstler deren tiefenzeitlichen Geschlechtsmetamorphosen als post-koloniale Selbst-Technologie in den globalen Bildraum überführt. Durch seine kontinuierliche Selbsterneuerung und verstreute Selbstverfielfachung unterläuft Miao Xiaochun nicht nur dominante Blickregime und zweigeschlechtliche Geschlechternormen, sondern fordert auch zur global erweiterten Theoretisierung von Geschlecht auf.

Isabel Seliger studierte Japanologie an der FU Berlin und der Keio University, Tokyo, sowie ostasiatische Sprachen und Literatur (Japanisch) an der University of Hawai’i at Mānoa, Honolulu. Forschungsschwerpunkte in den Bereichen ostasiatische Literatur- und Kunsttheorie, transnationale Diskurse in Ostasien, sowie Gender und Visual Culture Studies. Künstlerische Arbeit mittels der Verbindung von Fotografie und Netzwerktheorie. Einschlägige Publikation: “Crosscultural, Interpictorial, and Transgender: The Convergence of Male Icons in the Gandhāran Visual Field –– Implications for Art History”, in: Jill Casid and Aruna D’Souza (Hg.): In the Wake of the Global Turn: Propositions for an “Exploded” Art History without Borders, Clark Studies in the Visual Arts, Williamstown, MA, and New Haven, CT: Sterling and Francine Clark Art Institute and Yale University Press 2012.

Miriam Trzeciak/Elisabeth Tuider (Kassel): Zwischen Ausbeutung und Empowerment? Genderspezifische Handlungsmacht von Maquiladora-Arbeiterinnen in Nordmexiko

Seitdem sich an der mexikanischen Nordgrenze seit Mitte der 1960er Jahre die Maquiladora-Industrie konstituierte, sind insbesondere die Migrationsbewegungen von Frauen dadurch angestoßen worden. In unserem Beitrag werden wir anhand dieser Wanderungen das Konzept von Empowerment aus sozialwissenschaftlicher Sicht problematisieren und das Empowerment-Konzept von Naila Kabeer als ability to make choice stark machen (vgl. Kabeer 1999). Denn einerseits konstituieren sich in der von vielen migrierenden Frauen angestrebten Maquiladora-Industrie neofordistisch geprägte Ausbeutungsstrukturen. Auf der anderen Seite bieten die Maquiladoras für viele Frauen die Möglichkeit zu einer Anstellung im formellen Sektor, womit sich prinzipiell auch Veränderungen der familiären Konstellation ergeben können. In biographischen Interviews betonen die migrierten Frauen zudem die Vorzüge der Maquila-Arbeit als einen Zugewinn an „Würde“. Wie aber ist mit diesem Blick auf die mehrfach Ausgebeuteten und als Selbstrepräsentationen von Migrantinnen Empowerment heute zu konzeptualisieren? Die Kritik an den epistemischen Gewaltverhältnissen innerhalb westlicher Empowerment-Konzepte aufgreifend, werden wir in unserem Beitrag das Modell von Naila Kabeer zur Untersuchung von Handlungsmacht vorschlagen und es auf die Situation der an die Nordgrenze migrierten Maquila-Arbeiterinnen anwenden. In erzählgenerierenden Leitfadeninterviews (die mit sechs Mitarbeiterinnen von NGOs in verschiedenen mexikanischen Grenzstädten geführt wurden) werden die multidimensionalen Prozesse zur Erlangung von Handlungs- bzw. Wahlmöglichkeiten sowie die vielfältigen Faktoren und intersektionellen Strukturen, die eine Entscheidung beeinflussen, sichtbar gemacht.

Miriam Trzeciak ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet „Soziologie der Diversität unter besonderer Berücksichtigung der Dimension Gender“ an der Univ. Kassel. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind u.a. Migration und Geschlecht, Queer Theory, Postcolonial Studies und Lateinamerikaforschung. Einschlägige Veröffentlichung:  Zwischen Ausbeutung und Empowerment – Zur Situation von Arbeiterinnen in der nordmexikanischen Maquiladora-Industrie, in: Tuider, Elisabeth; Wienold, Hanns; Bewernitz, Torsten (Hrsg.): Dollares und Träume. Migration – Arbeit – Geschlecht in Mexiko zu Beginn des 21. Jahrhunderts Münster: Westfälisches Dampfboot  2009, S. 154-170.

Elisabeth Tuider ist Professorin für „Soziologie der Diversität unter besonderer Berücksichtung der Dimension Gender“ an der Univ. Kassel. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind u.a.  Migration und Geschlecht, Queer und Sexualpädagogik, Cultural- und Postkolonial-Studies, Qualitative Forschungsmethoden sowie Lateinamerikaforschung. Aktuell plant sie mit Miriam Trzeciak ein Lehrforschungsprojekt an die mexikanische Südregion. Einschlägige Veröffentlichung: Tuider, Elisabeth / Wienold, Hanns / Bewernitz, Torsten (Hg.): Dollares und Träume. Migration – Arbeit – Geschlecht in Mexiko zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Münster: Westfälisches Dampfboot 2009.